Jean Sebastien Larro

@der_naturvermittler

Von der Mitwelt zur Umwelt und zurück

Ein Essay über Entfremdung, Wiederverbindung und die vier Stränge der Naturbetrachtung
Jean Sebastien Larro mit Baum - Verbundenheit mit der Natur

Prolog: Der Bien

Es war ein Sommernachmittag, ich stand vor meinen Bienenstöcken, und plötzlich verstand ich etwas.

Ich hatte 2009 meine Imkerausbildung bei einem Demeter-Imker gemacht, wesensgemäßes Imkern gelernt, war dann aber in einem konventionellen Verein gelandet. Mit all diesen Widersprüchen ging ich an die Bienen, hin- und hergerissen zwischen Philosophie und Praxis, zwischen dem, was ich gelernt hatte, und dem, was "man halt so macht" und für modern hält. Jahre zuvor hatte ich Geographie studiert, Klimatologie, Hydrologie, Bodenkunde. Ich wusste, wie man Systeme analysiert, großräumige Bezüge herstellt. Versucht das Ganze zu sehen. Aber analysieren und verstehen sind zwei verschiedene Dinge.

Was mich an den Bienen faszinierte, war nicht die einzelne Biene. Nicht mal die Königin. Es war der Bien, das Volk als Ganzes, als ein Organismus. Ein Bienenvolk wird nicht "gesteuert". Die Königin gibt keine Befehle. Und trotzdem weiß das Volk, was gut für es ist. Wann es schwärmen muss. Wann es eine neue Königin braucht. Wie es den Winter übersteht. Es ist, als hätte das Ganze ein Wissen, das keiner seiner Teile allein besitzt.

Dieses Wissen geht verloren, wenn man es wegzüchtet. Hochgezüchtete Bienen wie die Buckfast brüten einfach weiter, auch wenn das Futter knapp wird. Die alte Dunkle Biene dagegen hatte Brutlücken, sie reagierte auf Mangel, passte sich an. Das Volk wusste, wann es sich zurücknehmen musste. Die moderne Biene hat das verlernt.

Und dann, an diesem Nachmittag, kam der Gedanke. Was, wenn die Erde unser Bien ist?

Ich hatte vorher schon von Gaia gelesen, von der Tiefenökologie gehört, von der Anima Mundi. Das alles hatte sich immer irgendwie richtig angefühlt, aber es war nicht greifbar. Es fehlte ein Bild. Ich hatte einzelne Elemente aufgegriffen, überprüft, manche verworfen, aber sie fügten sich nicht zusammen. Und jetzt, vor den Bienen, war es plötzlich da. Keine Theorie mehr. Offensichtlich. Natürlich ist die Erde ein Organismus. Natürlich reguliert sie sich selbst. Natürlich sind wir Teil von etwas Größerem, das wir nicht steuern, sondern dem wir angehören.

Alles machte plötzlich Sinn.

Dieser Text ist der Versuch, diesen Moment zu entfalten. Die Fäden zurückzuverfolgen, die dort zusammenliefen. Und die Frage zu stellen, die mich seitdem nicht mehr loslässt. Wie konnten wir so vom Weg abkommen? Wie haben wir vergessen, dass wir Teil sind und nicht Herrscher? Später lernte ich den Begriff Mitwelt kennen, im Gegensatz zur Umwelt. Er trifft es ziemlich genau. Aber damals, vor den Bienen, hatte ich noch kein Wort dafür. Nur dieses Bild, der Bien. Und die Ahnung, dass die Erde genauso funktioniert.

I. Mitwelt und Umwelt

Wenn du das nächste Mal durch einen Wald gehst, halte einen Moment inne und frage dich: Bin ich gerade im Wald, oder bin ich Wald?

Diese Frage klingt vielleicht seltsam. Aber sie berührt den Kern einer der tiefgreifendsten Veränderungen in der Geschichte der Menschheit. Die Verwandlung der Mitwelt in eine Umwelt.

Es ist mehr als ein sprachlicher Unterschied. Umwelt bedeutet etwas, das uns umgibt, während wir selbst außerhalb stehen, getrennt, beobachtend. Mitwelt dagegen beschreibt ein Gewebe, in das wir eingewoben sind, Mitwesen unter Mitwesen.

Das Konzept sollte uns eigentlich nicht fremd sein. Wir sprechen ja von Mitmenschen, nicht von Ummenschen. Wir wissen intuitiv, dass wir mit anderen Menschen in Beziehung stehen, nicht bloß von ihnen umgeben sind. Aber bei der Natur? Da haben wir diese Perspektive verloren.

Diese Verschiebung ist nicht nur eine Geschichte der Entfremdung, sie ist auch die Geschichte eines Vergessens. Eines Vergessens, wer wir wirklich sind.

Aber es gibt Wege zurück. Und diese Wege sind vielfältig, sie kommen aus verschiedenen Kulturen, Zeiten und Traditionen. Vier Stränge möchte ich dir zeigen, vier Perspektiven, durch die wir die Mitwelt wieder entdecken können. Drei davon habe ich nach und nach gefunden, ein vierter war mir lange verloren und musste erst wiedergefunden werden.

II. Die verlorene Ganzheit

Der Vierklang des Menschseins

Es gab eine Zeit, und sie ist noch nicht so lange her, in der Körper, Geist, Emotion und Verstand zusammengehörten. Nicht als Konzept, nicht als Theorie. Es war einfach so. Der Körper fühlte den feuchten Boden unter den Füßen, der Geist ahnte die Verbundenheit mit allem Lebendigen, die Emotion schwang mit im Rhythmus der Jahreszeiten, und der Verstand ordnete die Beobachtungen zu nützlichem Wissen. Keiner dieser Aspekte war wichtiger als der andere.

Dieser Vierklang war gelebte Wirklichkeit. Menschen lebten so, überall auf der Welt, über Jahrtausende. Auch unsere Vorfahren, hier. Sie waren nicht Beobachter der Natur, sondern Teil von ihr. Sie lebten in der Mitwelt, nicht in einer Umwelt.

In dieser Mitwelt hatte alles eine Seele. Die Bäume, die Steine, die Flüsse, alles war beseelt, alles war verwandt. Man fragte die Pflanze um Erlaubnis, bevor man sie pflückte. Man dankte dem erlegten Tier, eine Praxis, die auch heute noch existiert, wenn Jäger dem Reh den "letzten Bissen" reichen und einen Zweig in den Äser stecken. Ein Zeichen des Respekts, ein Rest der alten Verbindung. Man verstand sich als Teilhaber an einem großen Beziehungsgeflecht, in dem jedes Wesen seinen Platz und seine Würde hatte.

Die Welt, wie wir sie sehen

Es gibt eine Weisheit, woher genau sie stammt, weiß niemand so recht, aber aus meiner Sicht stimmt sie: "Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, wir sehen sie, wie wir sind."

Das ist, finde ich, eine der tiefsten Einsichten über unsere menschliche Wahrnehmung. Wir projizieren unsere innere Welt auf die äußere. Die Brennnessel ist nicht einfach eine Pflanze. Sie ist "Unkraut", weil wir sie so nennen. Der Wolf ist nicht einfach ein Wolf. Er ist "gefährlich" oder "schützenswert", je nachdem, was wir in ihn hineinlegen.

Die Brennnessel

Die Brennnessel begleitet mich durch diesen ganzen Text. Das ist kein Zufall. Sie ist, wenn man so will, das perfekte Symbol für alles, worum es hier geht.

Für die meisten Menschen ist die Brennnessel Unkraut. Sie wächst da, wo es finster und feucht ist, in Ecken, in die man nicht gerne schaut. Pinkelecken, Schutthalden, vernachlässigte Grundstücke. Wo Brennnessel wächst, ist etwas faul, so die landläufige Meinung. Und dann brennt sie auch noch.

In Wirklichkeit ist die Brennnessel eines der vielseitigsten und wertvollsten Gewächse, die wir haben. Nahrungspflanze (die jungen Blätter sind köstlich), Heilpflanze (bei rheumatischen Beschwerden, als Haarwasser, zur Entgiftung), Faserpflanze (Nesseltuch war früher weit verbreitet), Lebensraum für über 50 Schmetterlingsarten, Zeigerpflanze für stickstoffreiche Böden. Sie ist nicht weniger wertvoll als die Pflanzen, die wir schätzen. Wir haben nur gelernt, sie nicht so zu sehen.

Aber um das zu sehen, muss man hinschauen. Man muss die Projektion ablegen. Man muss aufhören, "Unkraut" zu sehen, und anfangen, eine Pflanze zu sehen. Ein Mitwesen.

Das ist der Unterschied zwischen Umwelt und Mitwelt. In der Umwelt projizieren wir: nützlich, störend, gefährlich, schön. In der Mitwelt gibt es keine Projektion, weil es keine Distanz gibt. Man begegnet dem, was ist. Die Brennnessel ist dann weder Unkraut noch Heilpflanze. Sie ist einfach Brennnessel. Mitwesen. Mit eigenem Recht zu existieren.

Wobei, wer weiß das schon so genau? Wir können uns in unsere Vorfahren nicht wirklich hineinversetzen. Vielleicht hatten auch sie ihre Projektionen. Aber die Trennung, die wir heute leben, die war es wohl nicht.

III. Die große Trennung

Die Wurzeln der Entfremdung

Die ersten Risse entstanden bereits mit der neolithischen Revolution vor etwa 10.000 Jahren. Als der Mensch vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern wurde, begann er die Natur nicht mehr nur zu nutzen, sondern aktiv zu gestalten und zu kontrollieren. Die Mitwelt wurde langsam zur Ressource.

Das Alte Testament verstärkte diese Tendenz mit dem biblischen Auftrag, sich die Erde "untertan" zu machen. Der strenge Monotheismus entsakralisierte die Natur radikal, sie war nicht mehr göttlich, sondern Schöpfung. Nicht mehr Mitwelt, sondern Werk eines externen Schöpfers.

Der große Bruch durch die griechische Philosophie

Den entscheidenden Wendepunkt markierte die griechische Philosophie ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. Während frühe Kulturen wie Sumerer, Ägypter (die bei tausend Göttern schworen), oder die Kelten und Germanen (deren Heilige Haine noch bezeugen, wie sie die Welt sahen) sich noch als Teil einer beseelten Mitwelt verstanden, schufen die griechischen Denker eine folgenreiche Hierarchie.

Platon stellte die Ideenwelt über die Sinnenwelt, Geist über Materie, Ewiges über Vergängliches. Die sinnlich wahrnehmbare Natur wurde abgewertet zur bloßen, unvollkommenen Kopie der "wahren" Welt der Ideen.

Aristoteles systematisierte diese Hierarchie weiter und ordnete alle Lebewesen in eine Scala Naturae ein, mit dem Menschen an der Spitze. Die Natur existierte, um dem Menschen zu dienen.

Die Römer übersetzten diese Philosophie in praktische Naturbeherrschung. Sie wurden zu Ingenieuren der Landschaft, schufen das Konzept der "civilitas", der zivilisierten Ordnung gegen die wilde Natur. Civilitas successit barbarum, Zivilisation folgt auf Barbarei. Hier entstand systematisch die Idee, dass menschliche Ordnung über natürliche Ordnung zu stellen sei, dass Wildnis gleichzusetzen sei mit Chaos und Gefahr.

Die Vollendung der Entfremdung

Das Christentum trieb diese Entwicklung auf die Spitze. Es verband die griechische Geist-Materie-Hierarchie mit dem alttestamentlichen Dominanzauftrag und dämonisierte oft sogar die Natur. Heidnische Naturkulte wurden als teuflisch bekämpft. Die Heiligen Haine wurden gefällt, die alten Quellheiligtümer zerstört.

Der Protestantismus, besonders in seiner calvinistischen Ausprägung, fügte eine fatale neue Dimension hinzu. Fleiß und Reichtum wurden zu Zeichen göttlicher Gnade. Diese "protestantische Arbeitsethik" sakralisierte die Arbeit als gottgefälligen Selbstzweck und legitimierte endlose Akkumulation als moralische Pflicht. Naturbeherrschung wurde nicht mehr nur als praktisch nützlich, sondern als religiös geboten verstanden. Max Weber zeigte, wie der Protestantismus so den geistigen Boden für den modernen Kapitalismus vorbereitete.

Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts vollendete die Trennung. René Descartes erklärte Tiere zu Maschinen ohne Bewusstsein. Francis Bacon formulierte das Programm, dass die Natur "gefoltert" werden müsse, damit sie ihre Geheimnisse preisgibt. Isaac Newton beschrieb das Universum als Uhrwerk.

Die Natur war nun endgültig zur Umwelt geworden, zu etwas Äußerem, Mechanischem, zu beherrschendem Material. Etwas, von dem wir losgelöst sind. Die Industrialisierung setzte dieses Programm radikal um. Die Folgen sehen wir heute.

IV. Die Entfremdung heute

Die Kompensation des Verlusts

Wir leben in einer Zeit, in der die Entfremdung von der Mitwelt, und damit von uns selbst, einen Höhepunkt erreicht hat. Die meisten Menschen verbringen ihr Leben in künstlichen Umgebungen: Häuser, Büros, Autos, Einkaufszentren. Der Kontakt zur natürlichen Welt beschränkt sich auf den gelegentlichen Spaziergang im Park oder den Urlaub am Meer.

Diese Entfremdung erzeugt einen tiefen, oft unbewussten Mangel. Die Menschen spüren, dass ihnen etwas fehlt, können aber nicht genau benennen, was es ist. Ein grundlegendes Gefühl des Abgetrenntseins.

Wir versuchen, diesen Mangel zu kompensieren. Mit Konsum, als könnten immer mehr Dinge die innere Leere füllen. Mit Drogen, legalen wie illegalen, als Betäubung. Mit Social Media, dieser Mischung aus ständiger Ablenkung und oberflächlicher Verbindung. Mit endloser Aktivität, bloß keine Ruhe, bloß keine Stille, bloß keine Begegnung mit dem eigenen Selbst.

Aber all diese Kompensationsversuche verstärken nur das Problem. Der Mangel bleibt. Denn was wir wirklich suchen, ist die verlorene Verbindung, zu uns selbst und zur Mitwelt.

Die Überbetonung von Verstand und Körper

In unserer Zeit werden zwei Aspekte des Vierklangs massiv überbewertet: Verstand und Körper.

Der Verstand dominiert durch Wissenschaft, Technologie, rationales Denken. Wir analysieren, kategorisieren, optimieren. Wir "wissen" unglaublich viel über die Natur, können Arten bestimmen, Ökosysteme beschreiben, biochemische Prozesse erklären. Aber dieses Wissen schafft Distanz. Es macht uns zu Beobachtern, nicht zu Teilhabern. Die Brennnessel wird zum Objekt der Analyse, statt dass wir ihr als Mitwesen begegnen.

Der Körper wird zur Maschine, die optimiert werden muss. Fitness, Ernährung, Gesundheit. Der Körper als Projekt, nicht als lebendiges, fühlendes Wesen. Auch hier geht es um Kontrolle statt Verbindung.

Was vernachlässigt wird, sind Emotion und Geist. Das unmittelbare Fühlen, das Berührtsein, die Resonanz mit der Welt. Das Ahnen der Verbundenheit, das Spüren des Heiligen, die Erfahrung von etwas Größerem.

Ohne diese beiden Aspekte bleibt der Mensch unvollständig. Und aus dieser Unvollständigkeit erwachsen, so scheint mir jedenfalls, viele der psychischen Leiden unserer Zeit.

Die psychischen Folgen

Die Statistiken sind eindeutig. Depressionen, Angststörungen, Burnout, all dies nimmt dramatisch zu. Die WHO spricht von einer "stillen Pandemie" psychischer Erkrankungen.

Ein wesentlicher Faktor (neben vielen anderen) ist die Entfremdung von der Mitwelt. Die Forschung zeigt messbare Effekte. Eine Studie des Max-Planck-Instituts fand heraus, dass bereits eine Stunde Waldspaziergang die Aktivität der Amygdala reduziert, das ist das Angstzentrum im Gehirn. Die Wirkung ist real, aber sie hält nicht von allein. Wer nachhaltig profitieren will, muss regelmäßig raus.

Aber es geht um mehr als um "therapeutische Effekte". Es geht um ein grundlegendes Bedürfnis. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Eingebettetsein in ein größeres Ganzes.

Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt wird, entstehen Ängste, Depressionen, Aggressionen. Die Angst der Getrenntheit. Die Schwere der Isolation. Die Wut über den Verlust. Zumindest ist das eine Lesart. Ob sie stimmt? Ich vermute es. Beweisen kann ich es nicht.

V. Die philosophischen Grundlagen der Rückkehr

Bevor wir zu den vier Strängen kommen, den konkreten Wegen zurück zur Mitwelt, möchte ich kurz zwei philosophische Strömungen vorstellen, die das theoretische Fundament bilden.

Tiefenökologie (Deep Ecology)

Die Tiefenökologie, begründet von dem norwegischen Philosophen Arne Næss (1912-2009), ist mehr als eine Umweltethik. Sie ist eine Philosophie der Verbundenheit.

Ihre Kernprinzipien lassen sich so zusammenfassen. Jedes Lebewesen hat einen eigenen Wert, unabhängig von seiner Nützlichkeit für den Menschen. Alle Lebensformen haben das gleiche Recht zu leben und sich zu entfalten. Wahre Erfüllung entsteht durch das Erkennen unserer Verbundenheit mit allen Wesen. Unsere Identität erweitert sich über das Ego hinaus auf die gesamte Mitwelt.

Næss unterschied zwischen "flacher" und "tiefer" Ökologie. Die flache Ökologie fragt, wie wir die Natur schützen können, damit sie uns nützt. Die tiefe Ökologie fragt, wie wir unsere Beziehung zur Natur fundamental verändern können.

Die Tiefenökologie lädt uns ein, uns nicht mehr als getrennte Beobachter zu verstehen, sondern als Teil eines lebendigen, miteinander verwobenen Ganzen. Schädigen wir die Natur, schädigen wir uns selbst. Schützen wir die Natur, schützen wir uns selbst.

Die Gaia-Hypothese

Die Gaia-Hypothese, entwickelt vom britischen Wissenschaftler James Lovelock und der amerikanischen Mikrobiologin Lynn Margulis in den 1970er Jahren, beschreibt die Erde als selbstregulierenden Organismus.

Die zentrale These lässt sich so formulieren. Die Erde ist nicht einfach ein Planet, auf dem Leben existiert. Die Erde IST lebendig. Ein komplexes, sich selbst regulierendes System, in dem Atmosphäre, Ozeane, Gestein und Lebewesen zusammenwirken, um die Bedingungen für Leben zu erhalten.

Lovelock nannte dieses System "Gaia", nach der griechischen Erdgöttin. Der Name war umstritten, weil er mystisch klang. Aber genau darin liegt vielleicht die Kraft. Gaia erinnert uns daran, dass die Erde mehr ist als Materie. Sie ist ein lebendiges, kreatives, sich selbst organisierendes System.

Als ich das zum ersten Mal las, fand ich es interessant, aber abstrakt. Es war Theorie, die ich nicht greifen konnte. Erst der Bien, das Bienenvolk als Organismus, gab mir ein Bild dafür. Die Erde funktioniert wie ein Bienenvolk. Nicht gesteuert von oben, aber auch nicht chaotisch. Ein Ganzes, das mehr weiß als seine Teile. Gaia ist der Bien im Großen.

Ein Denker auf dem Weg

Hugo Kükelhaus (1900-1984) entwickelte eine "Erfahrungsphilosophie", die auf direkter sinnlicher Wahrnehmung basierte. Seine "Erfahrungsfelder zur Entfaltung der Sinne" sollten Menschen wieder mit ihrer natürlichen Wahrnehmungsfähigkeit verbinden. Kükelhaus erkannte, dass die Entfremdung mit der Entfremdung von unseren Sinnen beginnt. Wer nicht mehr fühlt, sieht, riecht, schmeckt, hört, der verliert den Kontakt zur Welt.

Diese und andere Denker haben den Weg bereitet. Aber Theorie allein reicht nicht. Wir brauchen auch Praxis. Wir brauchen konkrete Wege, durch die wir die Mitwelt wieder erfahren können.

Hier kommen die vier Stränge ins Spiel.

VI. Die vier Stränge der Naturbetrachtung

Es gibt verschiedene Weisen, die Mitwelt zu betrachten. Keine ist "richtiger" als die andere. Sie sind wie verschiedene Perspektiven auf dasselbe Geheimnis, verschiedene Sprachen für dasselbe Unsagbare. Drei Perspektiven habe ich nach und nach für mich entdeckt. Eine vierte stand eigentlich am Anfang, war dann lange vergessen und tauchte am Ende wieder auf.

Erster Strang: Die heilige Welt

Zwei Traditionen, die sich ergänzen. Die eine sagt, die Welt ist heilig. Die andere sagt, die Welt ist verbunden. Zusammen ergeben sie eine Haltung, mit der wir der Mitwelt begegnen können.

Die Welt ist gut, so wie sie ist.

Die Shambhala-Tradition, begründet von Chögyam Trungpa Rinpoche, nennt das Basic Goodness, grundlegende Güte. Die Welt ist in ihrem Wesen heilig und vollständig. Nicht defizitär, nicht erlösungsbedürftig. Die Brennnessel trägt diese Güte in sich, auch das Brennende gehört dazu. Sie braucht keine "Verbesserung". Sie ist gut, so wie sie ist.

Die Heiligkeit liegt nicht in fernen Tempeln, sondern im Morgentau auf der Wiese, in der gewöhnlichen Brennnessel. Das Alltägliche wird zum Tor ins Heilige. Wenn wir präsent sind.

Alles ist verbunden.

Der Buddhismus nennt das Pratityasamutpada, bedingtes Entstehen. Alles entsteht in Abhängigkeit von allem anderen. Die Brennnessel ist nicht "allein". Sie hängt ab von Boden, Wetter, Insekten, Pilzen, anderen Pflanzen. Sie ist ein Knoten in einem unendlichen Netz. Ökologie ist Pratityasamutpada in Aktion.

Alles ist im Fluss.

Anicca, Vergänglichkeit. Was im Februar als zartes Grün austreibt, wird im Herbst verwelken. Die Natur ist der größte Lehrer dafür, dass nichts bleibt.

Präsenz statt Projektion.

Sati, Achtsamkeit. Die Brennnessel wahrnehmen, wie sie ist. Nicht wie ich sie gerne hätte, nicht als "gut" oder "schlecht", sondern als das, was IST. Unsere Kategorien sind Projektionen. Die Natur selbst ist offen.

Heaven, Human, Earth.

Wir stehen zwischen Himmel (Offenheit, Weite) und Erde (Verkörperung, Präsenz). Naturbetrachtung ist die Praxis, diesen Ort bewusst einzunehmen. Offen nach oben, geerdet nach unten, präsent in der Mitte.

Wenn ich der Brennnessel aus dieser Perspektive begegne, sehe ich Heiligkeit und Verbundenheit. Vergänglichkeit und Präsenz. Ich muss nichts hinzufügen, nichts wegnehmen. Nur da sein. In diesem Moment, an diesem Ort, mit dieser Pflanze.

Zweiter Strang: Die Sprache der Jahreszeiten

Das alte Japan teilte das Jahr nicht in vier Jahreszeiten, sondern in 72 Mikro-Jahreszeiten, Shichijūni Kō, jede etwa fünf Tage lang. Jede trägt einen poetischen Namen, der ein Naturphänomen beschreibt. "Der Ostwind taut das Eis auf" (Anfang Februar). "Die ersten Kräuter durchbrechen den Boden" (Mitte Februar). "Die Regenwürmer erwachen" (Ende März). "Die Bambussprossen tauchen auf" (Mitte Mai).

Was für eine andere Art, das Jahr zu erleben. Nicht vier grobe Blöcke, sondern 72 feine Übergänge. Nicht "Frühling", sondern 18 verschiedene Phasen des Frühlings, jede mit eigenem Charakter. Und nicht abstrakt, sondern konkret. Welche Pflanze zeigt sich? Welcher Vogel kehrt zurück?

Als ich davon las, dachte ich, so etwas brauchen wir hier auch. Nicht importiert aus Japan, sondern gewachsen aus unserer eigenen Landschaft.

Es gibt das bereits. Die Phänologie ist die Wissenschaft von den periodisch wiederkehrenden Naturerscheinungen im Jahresablauf. Der Deutsche Wetterdienst unterscheidet 10 phänologische Jahreszeiten, die nicht nach Kalender bestimmt werden, sondern nach dem, was tatsächlich draußen passiert.

Vorfrühling, wenn die Haselnuss blüht und Schneeglöckchen erscheinen. Erstfrühling, wenn die Forsythie blüht und die Birke grünt. Vollfrühling mit der Apfelblüte und der vollen Grüne. Frühsommer mit der Holunderblüte und den blühenden Gräsern. Hochsommer mit der Lindenblüte. Spätsommer, wenn der Frühapfel reift. Frühherbst, wenn die Holunderbeere reift. Vollherbst, wenn die Eiche sich färbt. Spätherbst, wenn die Buche ihr Laub verliert. Und schließlich der Winter mit der Vegetationsruhe.

Das ist nicht Poesie, das ist Wissenschaft. Aber es ist eine Wissenschaft, die hinschaut. Die fragt, was jetzt passiert, hier, in dieser Landschaft. Und die sich anpasst. In Hamburg ist Vorfrühling früher als in München. In den Bergen später als im Tal. Die Natur hält sich nicht an den Kalender.

Die Phänologie macht auch den Klimawandel sichtbar. Der Vorfrühling beginnt heute etwa 10 Tage früher als vor 30 Jahren. Das ist kein abstraktes CO2-Diagramm. Das ist die Haselnuss, die früher blüht. Messbar, beobachtbar, vor der eigenen Haustür.

Wie wäre es, wenn wir ein mitteleuropäisches Äquivalent zu den japanischen 72 Jahreszeiten entwickeln? Nicht 72, vielleicht weniger. Aber poetisch benannt und phänologisch fundiert. Die Wissenschaft gibt uns die Struktur, die Poesie gibt uns die Sprache.

Wenn ich der Brennnessel aus dieser Perspektive begegne, frage ich, in welcher Jahreszeit wir wirklich sind. Nicht laut Kalender, sondern laut Natur. Vielleicht Erstfrühling, die Forsythie blüht gerade. Die ersten Brennnesseltriebe zeigen sich. Die Brennnessel wird zur Zeugin einer ganz bestimmten Phase im Jahreskreis. Zur Chronistin. Sie ist nicht zeitlos. Sie ist zutiefst zeitgebunden.

Dritter Strang: Schwellenfeste und Zyklen

Unsere Kultur denkt in Linien. Fortschritt, Wachstum, immer weiter. Die Natur denkt in Kreisen. Werden, Vergehen, Wiederkehren.

Drei ineinandergreifende Zyklen strukturieren die Zeit, wenn man auf die Natur schaut statt auf den Kalender.

Der große Rhythmus: Die Sonne

Die Sonne gibt den Rahmen. Vier astronomische Fixpunkte, die kein Mensch erfunden hat, die einfach sind.

Wintersonnenwende am 21. Dezember, der kürzeste Tag, die längste Nacht. Ab jetzt wird es wieder heller.

Frühjahrs-Tagundnachtgleiche am 21. März, Tag und Nacht gleich lang. Das Licht übernimmt.

Sommersonnenwende am 21. Juni, der längste Tag, die kürzeste Nacht. Ab jetzt wird es wieder dunkler.

Herbst-Tagundnachtgleiche am 23. September, Tag und Nacht wieder gleich lang. Die Dunkelheit übernimmt.

Der mittlere Rhythmus: Die Schwellenfeste

Genau in der Mitte zwischen diesen Sonnenereignissen liegen die vier Schwellenfeste. Manche kennen sie als keltische Feste, aber eigentlich sind es agrarische Schwellenfeste, die sich in ganz Europa finden.

Imbolc Anfang Februar, zwischen Wintersonnenwende und Frühjahrs-Tagundnachtgleiche. Lichtfest, erstes Grün, die Dunkelheit weicht. Zeit der Hoffnung und des Neubeginns.

Beltane Anfang Mai, zwischen Frühjahrs-Tagundnachtgleiche und Sommersonnenwende. Fruchtbarkeitsfest, volle Blüte, Höhepunkt des Lebens. Zeit der Freude und Fülle.

Lughnasadh Anfang August, zwischen Sommersonnenwende und Herbst-Tagundnachtgleiche. Erste Ernte, Getreideschnitt. Zeit des Feierns und des Teilens.

Samhain Anfang November, zwischen Herbst-Tagundnachtgleiche und Wintersonnenwende. Tod und Neubeginn, Rückzug, Schwelle zwischen den Welten. Zeit der Ahnen und der Stille.

Zusammen ergeben Sonnenereignisse und Schwellenfeste acht Stationen im Jahr. Ein Rad, das sich dreht. Das "Wheel of the Year", wie manche es nennen. Keine Erfindung, keine Esoterik. Astronomie plus Landwirtschaft.

Was diese Feste lehren, ist Schwellenbewusstsein. Die Übergänge sind wichtig. Nicht nur das Ankommen, auch das Unterwegs-Sein. Samhain ist kein "Ende", sondern ein Durchgang. Die Nacht zwischen zwei Zuständen.

Der kurze Rhythmus: Der Mond

Innerhalb dieses Jahresrades tickt ein schnellerer Takt. Alle 29,5 Tage ein vollständiger Mondzyklus.

Neumond bedeutet Dunkelheit, Potential, Anfang. Zeit der Stille und des Rückzugs.

Zunehmender Mond bedeutet Wachstum, Aufbau. Zeit der Aktivität.

Vollmond bedeutet Fülle, Höhepunkt, Sichtbarkeit. Zeit der Ernte.

Abnehmender Mond bedeutet Loslassen, Integration. Zeit der Reflexion.

Menschen aller Kulturen haben nach dem Mond gelebt, gesät, geerntet, gefeiert. Nicht aus Aberglauben, sondern weil Rhythmus funktioniert. Weil auch in uns Zeiten der Fülle und Zeiten des Rückzugs wechseln. Der Mond macht das sichtbar.

Drei Zyklen, ein Prinzip

Man muss nicht daran "glauben". Man kann es einfach ausprobieren. Beobachten, wie es sich anfühlt, bei Neumond innezuhalten. Bei Vollmond zu feiern. Die Sonnenwende bewusst zu begehen. Die Schwellenfeste als Orientierungspunkte im Jahr zu nutzen, nicht als Ritual, sondern als Erinnerung. Das Jahr ist ein Kreis, kein Pfeil.

Wenn ich der Brennnessel zur Zeit von Beltane begegne, sehe ich sie in voller Jugendkraft, saftig grün, die jungen Blätter noch zart genug zum Ernten. Bei zunehmendem Mond sehe ich aufbauende Energie, die Säfte steigen. Zur Sommersonnenwende steht sie hoch und kräftig. Die Brennnessel ist nicht außerhalb dieser Zyklen. Sie ist Teil von ihnen. Wie alles Leben.

Vierter Strang: Giordano Bruno

Giordano Bruno (1548-1600) war eigentlich der Erste. Lange bevor ich Shambhala kannte, bevor ich die japanischen Jahreszeiten entdeckte, bevor ich überhaupt wusste, dass ich einmal Imker werden würde, gab es dieses Buch. Wilhelm Knapp über Giordano Bruno.

Ich muss so 15, 16 oder 17 gewesen sein. Katholisches Bayern, Pubertät, die klassische Konstellation für Auflehnung. Und dann das Buch über diesen Mönch, der auf dem Scheiterhaufen starb, weil er sagte: Das Göttliche ist nicht oben, es ist hier. In dir. In allem. Du brauchst keine wichtigtuenden Interpreten, die sich zwischen dich und das Heilige stellen.

Das war mein "Fuck you" an die Kirche. Bruno als Waffe. Ich habe ihn mitgenommen, jahrelang, aber eher als Munition gegen etwas, nicht als Weg zu etwas. Er war der Ketzer, der Rebell, der Märtyrer. Aber auch der, der etwas für mich richtiges ausgesprochen hatte. Für mich reichte das damals.

Dann Studium. Geographie, Wissenschaft, Systeme. Bruno verschwand in einer Schublade. Ich las Lovelock, las über Gaia, fand es "interessant". Tiefenökologie, "interessant". Anima Mundi, "interessant". Alles wurde abgelegt, einzelne Elemente aufgegriffen, überprüft, verworfen.

Und dann, Jahrzehnte später, bei der Arbeit am Konzept des Naturvermittlers, tauchte Bruno wieder auf. Ich weiß nicht mehr genau wie. Ein Zitat, ein Verweis, irgendwas. Aber diesmal war es anders. Diesmal war er kein Rebell mehr. Er war ein Puzzleteil, das ich lange gesucht hatte, ohne zu wissen, dass es fehlte.

Die Bien-Erfahrung war schon passiert. Ich hatte schon verstanden, dass die Erde ein Organismus ist. Die anderen Stränge hatte ich schon gefunden. Und jetzt las ich Bruno neu, nicht als Waffe gegen die Kirche, sondern als jemand, der 400 Jahre vor mir dasselbe gesehen hatte. Ein Dominikanermönch und ein Imker aus Rheinhessen, und wir redeten über dasselbe.

Wer war Bruno?

Ein italienischer Mönch, Philosoph und Astronom, der für seine Ideen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Seine "Häresie"? Er glaubte, dass das Universum unendlich sei, dass es unendlich viele Welten gebe, und dass Gott nicht ÜBER der Natur stehe, sondern IN ihr sei.

Das unendliche Universum. Gegen das geschlossene Weltbild seiner Zeit setzte Bruno ein Universum ohne Zentrum und ohne Grenze. Die Erde ist nicht der Mittelpunkt. Die Sonne ist nicht der Mittelpunkt. Es gibt unendlich viele Sonnen, unendlich viele Welten. Wir sind Teil eines grenzenlosen Kosmos.

Pantheismus. Bruno brach radikal mit der christlichen Vorstellung eines transzendenten Gottes, der über der Schöpfung steht. Für Bruno ist Gott immanent, Gott ist IN der Natur, IST die Natur. Deus sive natura, Gott oder die Natur, wie später auch Spinoza formulierte. Die Brennnessel ist nicht Gottes Geschöpf. Sie IST göttlich.

Die Anima Mundi. Die Weltseele. Ausgerechnet ein Begriff, der auf Platon zurückgeht, denselben Platon, den ich vorhin für die Abwertung der sinnlichen Welt verantwortlich gemacht habe. Aber Platon war komplizierter. In seinem Timaios beschreibt er den Kosmos als beseeltes Lebewesen, durchdrungen von einer Weltseele. Bruno griff das auf und drehte es weiter. Nicht die Ideenwelt ist das Eigentliche, die Seele IST in der Materie, überall, in allem. Für Bruno durchdringt die Anima Mundi das gesamte Universum. Alles ist beseelt, alles ist lebendig. Es gibt keine tote Materie. Der Stein, die Pflanze, das Tier, der Mensch, alle sind Teil dieser einen, allumfassenden Seele.

Die Anima Mundi. Das ist der Bien. Das ist Gaia. Das ist das, was ich an jenem Sommernachmittag vor meinen Bienenstöcken verstanden hatte. Bruno hatte es nur 400 Jahre früher in Worte gefasst. Und starb dafür.

Wenn ich der Brennnessel aus Brunos Perspektive begegne, sehe ich göttliches Leben. Hier pulsiert die Anima Mundi. Diese Pflanze ist kein "Unkraut", keine "Ressource", kein "Objekt". Sie ist beseelte Mitwelt, Teil des unendlichen, lebendigen Universums.

In letzter Zeit denke ich manchmal an Bruno. An den Mann, der starb, weil er diese Wahrheit nicht verraten wollte. Das Universum ist unendlich. Und wir sind Teil davon.

VII. Der Weg ist das Ziel

Die Rückkehr zur Mitwelt ist kein einmaliges Ereignis. Es ist kein Zustand, den man "erreicht" und dann "hat". Es ist ein Weg, den man geht. Immer wieder. Tag für Tag. Und in Kreisen.

Es gibt Momente, in denen die Verbindung spürbar ist, intensiv, klar, überwältigend. Die Brennnessel leuchtet. Der Baum spricht. Die Welt ist heilig. Das sind Geschenke.

Und es gibt Momente, in denen nichts davon spürbar ist. Die Brennnessel ist nur eine Pflanze. Der Wald nur Holz. Die Verbindung scheint verloren. Auch das gehört dazu.

Der Vierklang von Körper, Geist, Emotion und Verstand muss geübt werden. Wir leben in einer Kultur, die Verstand und Körper überbewertet. Emotion und Geist zurückzuholen braucht Zeit, Geduld, Übung.

Was mich tröstet: Der Weg ist nicht schwer. Er verlangt keine besonderen Fähigkeiten, kein spezielles Wissen. Er verlangt nur eines. Präsenz. Die Bereitschaft, innezuhalten. Die Offenheit, zu fühlen. Den Mut, sich zu öffnen.

VIII. Epilog: Mitwelt als Heilung

Die Entfremdung von der Mitwelt ist nicht nur ein ökologisches Problem. Sie ist auch ein psychologisches, ein spirituelles, ein existenzielles Problem.

Wenn wir uns von der Natur trennen, trennen wir uns von uns selbst. Wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir einen Teil unserer eigenen Seele. Die Depression, die Angst, die Aggression unserer Zeit, sie haben viele Ursachen. Aber eine davon ist, vermute ich, das Vergessen der Mitwelt.

Die Rückkehr zur Mitwelt ist deshalb mehr als Naturschutz. Sie ist Selbstheilung. Sie ist kulturelle Heilung. Sie ist der Versuch, wieder ganz zu werden.

Bruno starb auf dem Scheiterhaufen, weil er an der Heiligkeit der Natur festhielt. Heute, 400 Jahre später, ist für mich klar, dass er recht hatte. Das Universum ist unendlich. Gott ist nicht über der Natur, sondern in ihr. Wir sind nicht Herrscher, sondern Teil.

Die vier Stränge, die ich in diesem Text beschrieben habe, sind verschiedene Wege, diese eine Wahrheit zu erfassen. Wir sind Mitwelt.

Wenn wir das mit allen Sinnen begreifen, nicht nur mit dem Verstand, sondern mit Körper, Emotion und Geist, dann ändert sich alles.

Dann ist die Brennnessel kein Unkraut mehr. Dann ist der Wald kein Holzlieferant mehr. Dann ist die Erde keine Ressource mehr.

Dann ist alles Mitwelt. Dann sind wir Mitwelt. Dann sind wir zu Hause.


Im Geiste Giordano Brunos: Das Universum ist unendlich, und wir sind Teil davon.

Im Geiste Chögyam Trungpas: Die Welt ist heilig, so wie sie ist.

Im Geiste des Buddha: Alles ist miteinander verbunden.

Wie im Kleinen, so im Großen. Von der Mitwelt zur Umwelt, und zurück.

Philosophie Giordano Bruno Tiefenökologie Mitwelt Naturverbindung Shambhala Gaia
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