Jean Sebastien Larro

@der_naturvermittler

Pflücke den Tag

Raureif auf goldbraunem Quittenblatt im Dezember

Erster Dezember. Gestern war der erste Advent, heute beginnt der meteorologische Winter. Die Nacht war klar und kalt, richtig kalt, und als ich am Morgen durch den Garten gehe, knirscht der Raureif unter meinen Schuhen. Am Quittenbaum bleibe ich stehen. Ein paar letzte Blätter hängen noch. Goldbraun und jedes einzelne von feinen Eiskristallen überzogen. Daneben der Mispelbusch, der jetzt voller Früchte hängt. Diese seltsamen, fast vergessenen Früchte, die matt golden im ersten Licht leuchten. Sie warten auf den Frost.

Mispeln. Wer kennt die noch?

Ein paar sind runtergefallen, ich hebe eine auf. Hart. Die anderen drücke ich vorsichtig, noch am Strauch. Sie sind noch nicht soweit, aber es gab schon vier reife dieses Jahr. Mispeln brauchen den Frost, erst dann werden sie weich und süß. Blettung nennt man das, wenn die Kälte die Gerbstoffe abbaut und die Frucht genießbar macht. Eine Frucht, die den Frost nicht fürchtet, sondern braucht.

Pflücken. Aber noch nicht jetzt.

Vor über zweitausend Jahren schrieb der römische Dichter Horaz diese Zeilen:

Tu ne quaesieris – scire nefas – quem mihi, quem tibi finem di dederint, Leuconoe...

Frag nicht – es zu wissen ist Frevel – welches Ende die Götter mir, welches dir bestimmt haben, Leukonoë. Besser ist es, zu ertragen, was auch immer kommt. Ob Jupiter uns noch viele Winter schenkt oder ob dieser der letzte ist, der jetzt das Tyrrhenische Meer an den Klippen bricht: Sei weise, kläre den Wein, und schneide die lange Hoffnung auf kurze Dauer zurück. Denn während wir reden, ist die missgünstige Zeit schon entflohen: Carpe diem – pflücke den Tag, und vertraue so wenig wie möglich auf morgen.

Carpe diem. Jeder kennt diese Worte. Nutze den Tag, sagen wir. Aber das ist nicht ganz, was Horaz meinte. Carpere heißt pflücken. Wie eine Frucht. Wie eine Mispel, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Und genau das ist der Punkt. Nicht jede Frucht ist jederzeit reif. Die Mispel, die ich in der Hand halte, ist es noch nicht. Sie braucht noch ein paar Frostnächte. Würde ich sie jetzt essen, wäre sie bitter und hart. Ihr Tag ist noch nicht da.

Vielleicht ist das die eigentliche Weisheit, die in diesem alten Vers steckt. Nicht das hektische Greifen nach allem, was sich bietet. Sondern das Gespür dafür, wann etwas reif ist. Wann der Moment da ist. Und dann: zugreifen.

Die Mispel lehrt Geduld. Sie sagt: Manchmal muss es erst kalt werden, damit etwas reifen kann. Was hart und bitter war, wird weich und süß. Aber nur, wenn wir die Kälte zulassen. Und warten können. Und wenn wir dann pflücken, dann ist die missgünstige Zeit schon entflohen.

Horaz spricht vom Winter. "Ob Jupiter uns noch viele Winter schenkt oder ob dieser der letzte ist." Er wusste, dass wir das nicht wissen können. Daher, den Wein klären, die Hoffnung zurückschneiden, nicht in Hektik oder Aktionismus verfallen, sondern den Tag pflücken, der jetzt da ist.

Ich stecke die Mispel vom Boden in die Jackentasche. Werde sie auf einem Tablett aufbewahren und in ein, zwei Wochen wieder drücken. Vielleicht ist sie dann soweit.

Die Sonne schiebt sich über die Baumwipfel. Der Raureif auf den Quittenblättern beginnt zu glitzern, dann zu schmelzen. Der Tag ist da. Aber manche Früchte brauchen noch Zeit.

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