Letzte Nacht, kurz vor Mitternacht, ein Rascheln am Gartenrand. Die Taschenlampe zeigt mir einen Igel – und was für einen. Groß, sehr groß, ein ausgewachsenes Tier, das eigentlich längst in seinem Winterquartier liegen sollte. Stattdessen schiebt er sich durch das nasse Laub, als hätte ihm niemand gesagt, dass Mitte Dezember ist.
Er sollte nicht hier sein. Und doch ist er da.
6 Grad, Dauergrau, Hochnebel seit Tagen. Alles matschig, die Wege aufgeweicht, der Himmel eine einzige Decke ohne Kontur. Kein Wetter, um irgendetwas zu betrachten, möchte man meinen. Und trotzdem – vielleicht gerade deshalb – zeigt sich etwas, wenn man hinschaut.
Mein kleiner Freund, der Zaunkönig, ist in diesen Tagen gut zu beobachten. Er treibt sich um unseren Totholzhaufen herum – ein mächtiges Gebilde, zwei mal drei Meter Grundfläche, gut zwei Meter hoch, über Jahre gewachsen aus allem, was der Garten an Ästen und Zweigen hergegeben hat. Der Zaunkönig huscht zwischen den Spalten hindurch, verschwindet im Inneren, taucht an anderer Stelle wieder auf. Ein winziger König in seinem Reich aus totem Holz, das so lebendig ist.
Ich sehe ihn gerade jetzt so deutlich, weil die Deckung fehlt. Die Blätter sind gefallen, die Stauden zusammengesunken, das dichte Grün des Sommers ist verschwunden. Der Zaunkönig, der sonst im Unterholz verschwindet, wird sichtbar. Das Weniger zeigt mehr.
Nachts kriechen die Regenwürmer hervor, strecken sich aus ihren Gängen an die Oberfläche. Paarungszeit? Die feuchte Wärme lockt sie nach oben. Unter unseren Füßen, im Verborgenen, geht das Leben weiter – auch jetzt, auch im Dezember.
Die Amseln fehlen dieses Jahr. Der Apfel, den ich ihnen hingelegt hatte, ist vergammelt, unberührt. Wo sind sie? Auch das Rotkehlchen, mein verlässlicher Winterbegleiter, habe ich noch nicht gesichtet. Vielleicht braucht es noch ein paar Tage. Vielleicht so bald mit dem Füttern beginne. Das hatte ich mir für die Weihnachtstage aufgehoben, als kleines Ritual.
Wir befinden uns in der Schwellenzeit. Phänologisch ist es tiefer Winter – die zehnte und letzte Jahreszeit im Naturkalender, die Zeit der Ruhe, in der scheinbar nichts geschieht. Am Samstag, dem 21. Dezember, erreichen wir die Wintersonnenwende: die längste Nacht des Jahres. Und dieses Jahr fällt sie zusammen mit dem Neumond.
Maximale Dunkelheit.
In vielen Traditionen ist dies die heiligste Nacht – Yule, das Fest der Wintersonnenwende, an dem das Licht wiedergeboren wird. Nicht weil die Dunkelheit besiegt werden muss, sondern weil sie ihren tiefsten Punkt erreicht hat und nun von selbst umkehrt. Das Licht kehrt nicht trotz der Dunkelheit zurück, sondern aus ihr heraus.
Am Schloss Freudenberg in Wiesbaden wird in dieser Nacht ein großes Jahreszeitenfeuer entzündet – ein uraltes Ritual, Licht im Dunkel, Gemeinschaft in der Kälte. Ich werde hingehen.
Die Nebeltage lehren Geduld. Sie sind nicht die Zeit der großen Gesten und der spektakulären Begegnungen. Sie sind die Zeit des genauen Hinschauens, des Wartens, des Aushaltens. Der Igel, der nicht schlafen kann oder will. Der Zaunkönig, der sichtbar wird, weil alles andere verschwunden ist. Die Regenwürmer, die im Verborgenen ihr Werk tun.
In der buddhistischen Tradition gibt es den Begriff der grundlegenden Güte – die Vorstellung, dass die Welt in ihrem Wesen heil ist, auch wenn sie sich nicht so zeigt. Auch der graue Dezember. Auch der Matsch unter den Stiefeln. Auch die Dunkelheit, die noch vier Tage zunimmt, bevor sie sich wendet.
Ich denke, dass das die Einladung dieser Tage ist. Nicht warten, bis es wieder heller wird, sondern dem Grau begegnen. Nicht überspringen wollen, was ist.
Wer solchen Begegnungen gemeinsam nachspüren möchte – im neuen Jahr biete ich wieder Naturvermittlungen an.