Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke (aus "Neue Gedichte", 1907)
Wenn die Schleier dünn werden
Das Foto zeigt Friedhof Essenheim nach Einbruch der Dunkelheit. Das Tor steht offen. Nicht verschlossen, nicht abweisend – einladend vielmehr. Als wüssten die Menschen hier um etwas, das wir in unserer modernen Hektik oft vergessen: dass die Grenze zwischen den Welten durchlässig ist, besonders jetzt, zur Zeit von Samhain.
Die alten Kelten nannten diese Nacht das "Fest der Toten" – nicht aus Furcht, sondern aus Verbundenheit. Samhain markierte das Ende der Erntezeit und den Beginn der dunklen Jahreshälfte. Die Zeit, in der das Leben sich zurückzieht, nach innen geht, sich sammelt. Und in dieser Schwellenzeit, so glaubte man, können die Ahnen zu uns zurückkehren.
Das offene Tor ist vielleicht ein Zeichen dieser alten Weisheit: Wir müssen keine Angst haben vor der Vergänglichkeit. Vor dem Fallen, wie Rilke es nennt.
Alles fällt – und wird gehalten
Rilkes Gedicht beschreibt dieses universelle Fallen mit einer Eindringlichkeit, die unter die Haut geht. Die Blätter fallen. Die Erde fällt. Wir alle fallen. Unsere Hände, unsere Gewissheiten, unsere Illusionen von Dauerhaftigkeit.
Aber – und das ist der entscheidende Moment im Gedicht – wir fallen nicht ins Nichts. "Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält."
Man muss das nicht religiös deuten. Man kann es auch als das große Gewebe des Lebens selbst verstehen, als Gaia, als die Erde, die uns trägt. Oder als die Generationen vor uns, die Ahnen, die uns in ihren unsichtbaren Händen halten, weil wir Teil ihrer Geschichte sind.
Der Kreislauf statt der Endgültigkeit
Was Samhain und Rilkes Gedicht verbindet, ist diese Ahnung vom Kreislauf. Die Kelten feierten nicht den Tod als Endpunkt, sondern als notwendigen Teil des ewigen Werdens und Vergehens. Das Rad des Jahres dreht sich weiter. Was fällt, wird zu Erde. Was vergeht, nährt das Neue.
In einer Kultur, die den Tod gerne ausblendet, die Vergänglichkeit als Makel betrachtet und Jugend vergötzt, ist diese alte Weisheit ein Geschenk. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht alles festhalten müssen. Dass Loslassen keine Niederlage ist, sondern Teil des Tanzes.
Das offene Tor von Essenheim lädt uns ein, diese Perspektive wieder einzunehmen. Nicht mit Gruselmasken und Kunstblut, sondern mit Stille, mit Dankbarkeit, mit dem Bewusstsein für die, die vor uns gegangen sind.
Eine Einladung
Vielleicht magst du in diesen Tagen innehalten. Ein Licht anzünden für jemanden, der nicht mehr da ist. Einen Spaziergang machen in der Dämmerung, wenn die Welt zwischen Tag und Nacht schwebt. Dem Fallen der Blätter zusehen – und spüren, dass auch du gehalten wirst in diesem großen Wandel.
Die Schleier zwischen den Welten sind dünn in diesen Nächten. Nicht zum Gruseln. Sondern zum Erinnern. Zum Verbinden. Zum Heimkommen.
Das Foto entstand am Friedhof Essenheim, Rheinhessen – ein Ort, der zeigt, dass offene Tore mehr sind als Durchgänge. Sie sind Symbole für eine Haltung: Wir sind Teil eines größeren Kreislaufs, und die, die vor uns gingen, sind nicht vergessen.