Der Morgen heute: klar und kalt. Die Nacht hatte ihre Finger in den Wald gelegt, einstellige Temperaturen, das spürt man. Und doch – die Sonne ist da. Im Bingerwald leuchten die Buchen in verschiedenen Farben, rot und golden und kupferfarben. Der Herbst zeigt seine knackige Seite und dieses klare Licht, das nur jetzt im Jahr so ist.
Kein Nebeltag, nicht heute. Stattdessen diese Klarheit.
An solchen Tagen denke ich an Theodor Storm. An sein Gedicht "November", das eigentlich kein reines Novembergedicht ist (zumindest kommt es mir so vor), sondern eines über genau diesen Moment: wenn sich etwas wendet, wenn etwas geht – und noch einmal zurückkommt.
Schon ins Land der Pyramiden
Flohn die Störche übers Meer;
Schwalbenflug ist längst geschieden,
Auch die Lerche singt nicht mehr.
Seufzend in geheimer Klage
Streift der Wind das letzte Grün;
Und die süßen Sommertage,
Ach, sie sind dahin, dahin!
Nebel hat den Wald verschlungen,
Der dein stillstes Glück gesehn;
Ganz in Duft und Dämmerungen
Will die schöne Welt vergehn.
Nur noch einmal bricht die Sonne
Unaufhaltsam durch den Duft,
Und ein Strahl der alten Wonne
Rieselt über Tal und Kluft.
Und es leuchten Wald und Heide,
Daß man sicher glauben mag,
Hinter allem Winterleide
Lieg' ein ferner Frühlingstag.
Phänologisch befinden wir uns am Übergang vom Vollherbst zum Spätherbst – die Laubfärbung ist in vollem Gange, wie du im Bingerwald siehst. Rot und Gold und Kupfer. Storm beschreibt in seinem Gedicht eher den tieferen November, wenn schon vieles gegangen ist. Aber dieser eine Vers passt auf heute: "Nur noch einmal bricht die Sonne."
Wobei – vielleicht lese ich da zu viel rein. Vielleicht ist es auch nur ein schöner Morgen, und ich bin der, der eine Geschichte daraus macht.
Dieses "nur noch einmal" – kennst du das? Diese Momente, die weder Abschied noch Neuanfang sind, sondern irgendwie beides gleichzeitig halten? Die Natur macht keine klaren Schnitte. Sie zeigt uns Übergänge. Zwischenräume. Ich weiß nicht, ob das eine gute Formulierung ist, aber so fühlt es sich an.
Storm nennt es "ein Strahl der alten Wonne". Das Licht heute – ist es alt oder neu? Ist es Erinnerung an den Sommer oder Vorgeschmack auf den Frühling? Könnte beides sein. Oder es ist einfach: jetzt.
Was geschieht in dir, wenn du solche Momente erlebst? Dieses Aufleuchten, von dem du weißt, dass es nicht bleibt? Vielleicht nichts. Vielleicht auch etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt.
Die buddhistische Tradition würde hier von anicca sprechen – der Vergänglichkeit aller Dinge (wobei ich kein Buddhist bin und das nur aus zweiter Hand kenne). Aber nicht als düstere Wahrheit, sondern als Einladung: Gerade weil es vergeht, ist es so kostbar. Gerade weil die Sonne nur noch einmal bricht, leuchtet sie so intensiv.
Niemand muss diesen Moment "nutzen". Niemand muss irgendwas daraus machen. Er ist einfach da. Wie das Licht im Bingerwald. Es fordert nichts. Es zeigt sich.
Vielleicht magst du in den nächsten Tagen auf solche Momente achten. Nicht suchen – sie kommen von selbst, glaube ich. Dieses letzte Leuchten vor dem Grau. Dieser eine warme Strahl mitten im Kalten.
Storm hat recht, denke ich: Hinter allem Winterleide liegt ein ferner Frühlingstag. Aber das ist später. Jetzt ist November. Jetzt ist dieses Licht.
Und manchmal reicht es, einfach zu sehen.