Die letzten Tage bin ich immer wieder an diesen Glockenblumen vorbeigegangen. Sie standen da, mitten im November, als hätte ihnen niemand gesagt, dass ihre Zeit längst vorbei ist. Ein paar violette Blüten zwischen welkem Laub und nassen Grashalmen, ziemlich unbeeindruckt von allem. Ich hab mich jedes Mal dran gefreut, wenn ich sie gesehen hab. So ein kleiner Sommergruß, völlig außerhalb der Zeit.
Es ist schon seltsam – normalerweise sind Glockenblumen im Juli durch, vielleicht noch im August, wenn's gut läuft. Aber im November? Da sollte eigentlich alles braun sein, zusammengefallen, fertig. Und dann stehen sie da und blühen einfach weiter. Wacker, würde man sagen. Wobei ich nicht weiß, ob Pflanzen wacker sein können oder ob das nur meine Projektion ist. (Wahrscheinlich letzteres, aber egal.)
Was mich daran berührt hat, war dieses Unpassende. Diese Blüten hatten nichts mehr mit dem Rest der Welt zu tun. Alles um sie herum war schon im Rückzug, die Bäume kahl, die Luft kalt, der Boden feucht und dunkel. Und mittendrin: ein bisschen Blau. Als hätte jemand vergessen, das Licht auszumachen.
Letzte Nacht war die erste richtige Frostnacht hier bei uns in Rheinhessen. Ich hab heute Morgen nachgeschaut – die Glockenblumen sind noch da, aber sie sehen anders aus. Nicht mehr so aufrecht. Vielleicht halten sie noch einen Tag, vielleicht nicht. Eigentlich egal. Sie waren da, länger als erwartet, und das war schön.
Gleichzeitig (und das ist vielleicht das Verrückte) drücken woanders schon die ersten Knospen. Die Zaubernuss zum Beispiel. Ich bin heute an unserem Strauch vorbeigegangen und hab gesehen, wie sich die ersten winzigen Blütenknospen zeigen. Noch geschlossen, aber deutlich zu erkennen. In ein paar Wochen werden die aufgehen, mitten im Winter, wenn alles andere schläft.
Das ist so ein Moment, wo man merkt: Es gibt kein klares Ende und keinen klaren Anfang. Etwas geht, etwas kommt, und für einen kurzen Moment sind beide gleichzeitig da. Die letzten Glockenblumen und die ersten Zaubernuss-Knospen, im selben Garten, am selben Tag. Vielleicht sogar in derselben Stunde.
Ich weiß nicht, ob das letztes Jahr auch so war oder ob ich es nur jetzt erst bemerke. Vielleicht habe ich früher einfach nicht hingeschaut. Vielleicht war's auch anders. Aber im Moment ist es so: Das Letzte und das Erste liegen nah beieinander, manchmal so nah, dass man beides mit einem Blick erfassen kann.
Die Glockenblumen haben ihren Moment gehabt. Länger als gedacht, später als üblich, aber irgendwann ist halt Schluss. Und während sie gehen, macht sich woanders schon etwas bereit. Nicht als Trost, nicht als Ersatz – einfach als das, was als Nächstes kommt.